Corinna oder Italien
Dreizehntes Buch: Der Vesuv und die Umgebung von Neapel.
Siebentes Kapitel
Oswalds nächster Gedanke war das Bild seines Vaters. Er griff darnach, und fand es auch, aber das Wasser hatte es bis zur Unkenntlichkeit verlöscht. »Mein Gott!« rief Oswald in schmerzlicher Betrübniß, »sein Bild selbst nimmst du mir!« Corinna bat Lord Nelvil, das Portrait herstellen zu dürfen; er gestattete es gern, ohne viel davon zu hoffen. Mit um so freudigerem Erstaunen empfing er es daher nach drei Tagen zurück, und jetzt war das Bild von noch treffenderer Ähnlichkeit als früher. »Ja«, sagte Oswald hoch erfreut, »Sie haben seine Züge, und ihren Ausdruck, wie durch höheres Schauen, erkannt. Der Himmel bezeichnet Sie mir durch solches Wunder als die Genossin meines Schicksals, weil er Ihnen die Erinnerung an denjenigen offenbart, der immer über mich bestimmen soll. Corinna«, fuhr er fort, sich ihr zu Füßen werfend, »herrsche endlich ganz über mein Leben. Hier ist der Ring, den mein Vater seiner Gattin gab; nie ward dies Symbol der Liebe von edlerer Hand an ein treueres Herz gegeben; ich nehme ihn von meinem Finger, und streife ihn auf den Deinen, und von dieser Stunde an bin ich nicht mehr frei; nicht frei, so lange Du ihn behältst. Ich spreche das heilige Gelöbniß aus, ehe ich weiß, wer Du bist; ich glaube Deiner hohen Seele; sie sagt mir Deine edelsten Geheimnisse, sagt mir Alles, was ich wissen muß. Wenn die Ereignisse Ihres Lebens in Ihrer Hand gelegen haben, müssen sie edel sein, wie Ihr Charakter; kamen sie von der Hand des Schicksals, und Sie wurden das Opfer derselben, so danke ich dem Himmel, daß ich berufen bin, sie vielleicht wieder gut zu machen. Darum also, o meine Corinna, sagen Sie mir Ihr Geheimniß; Sie sind dies dem Manne schuldig, dessen Gelübde Ihrem Vertrauen voranging.«
»Oswald«, erwiderte Corinna, »Ihre tiefe Bewegung entsteht aus einem Irrthum, den ich zerstören muß, ehe ich den Ring annehme. Sie glauben, daß ich die Züge Ihres Vaters vermöge eines Schauens mit dem Herzen errieth; darauf muß ich Ihnen bekennen, daß ich ihn mehrere Mal gesehen habe –« »Sie! meinen Vater gesehen!« rief Lord Nelvil, »und wie? Und wo? Ist es denn möglich? O mein Gott, wer sind Sie denn?« – »Hier ist Ihr Ring«, sagte Corinna mit erstickter Stimme, »jetzt schon muß ich ihn zurückgeben.« – »Nein«, entgegnete Oswald nach einigem Stillschweigen, »ich schwöre es, nie werde ich der Gatte einer Andern sein, bis Sie mir diesen Ring wiedersenden. Aber verzeihen Sie nur, daß ich die Verwirrung, die Sie in meiner Seele aufregen, nicht bemeistern kann; unklare Vorstellungen drängen sich mir auf – ach, diese Unruhe thut so weh!« – »Ich sehe es«, erwiderte Corinna, »und werde sie abkürzen; ich fühle es – Ihre Stimme ist nicht mehr dieselbe, Ihre Worte sind verändert. Wenn Sie meine Geschichte gelesen haben werden, wenn das furchtbare Abschiedswort ... –« »Abschied!« rief Lord Nelvil; »nein, Geliebte, auf dem Todbette nehme ich Abschied von Dir; fürchte nicht, daß es früher geschehe.« – Corinna ging hinaus, und einige Minuten später trat Theresina ins Zimmer, um Lord Nelvil von Seiten ihrer Herrin die folgenden Blätter zu überreichen.